Szeneprofil: Graffiti
Intro
Im Fokus der Graffiti-Szene steht das Anbringen von Schriftzügen, Bildern und Bildfragmenten. Szenegänger sehen ihr Wirken als einen kreativ-künstlerischen Akt der Selbstverwirklichung und Selbstpräsentation. Den in der Graffiti-Szene vernetzten Writern geht es v. a. darum, ein in gestalterischer und ästhetischer Hinsicht möglichst hochwertiges Werk anzufertigen. Durch Experimentieren mit den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten soll ein einzigartiger Stil entwickelt werden. Sprayen zielt auf szene-interne Anerkennung ab, die man sich nicht nur durch die Qualität eines Bildes, sondern auch durch die Schwierigkeiten und Gefahren erwirbt, die damit verbunden sind, dieses an einer bestimmten (besonders exhibitionierten und/oder besonders gefährlich zu erreichenden) Stelle anzubringen. Risiko und Illegalität sind somit wesentliche Motivations- und Inspirationsquellen der Szenegänger. Graffiti impliziert damit auch die Idee der ‘Rückeroberung’ des urbanen Raumes, der Aneignung öffentlicher und privater Flächen.
History
Bereits in den 1960er Jahren war ‘tagging’ (das ‘anbringen’ von Namenskürzeln) in Philadelphia populär, aber der Legende nach begann die Graffiti-Geschichte in den frühen 1970er Jahren in New York mit einem Botenjungen. Dieser verbreitete auf seinen ‘Streifzügen’ durch die Stadt das Pseudonym ‘TAKI 183′. Die New York Times brachte 1971 einen Artikel über das so bezeichnete ‘eigentümliche Gekritzel’ heraus und binnen kurzer Zeit nahmen sich andere Jugendliche – ‘bewaffnet’ mit Marker und Filzstift – dieser Idee der Freizeit- und Stadtgestaltung an und ‘bombardierten’ die Stadt mit ‘tags’. Die ursprünglichen tags setzten sich aus dem eigenen Vornamen und der Straßennummer zusammen und wichen bald einer Aneinanderreihung von scheinbar wahllos ausgewählten Buchstaben, wodurch die Anonymität der Writer gewährleistet blieb. Langsam begann sich eine Szene zu formieren: Writer organisierten sich in ‘crews’ und die Verwendung der Spraydose ermöglichte sodann das ‘bemalen’ größerer Flächen und brachte dergestalt die New Yorker U-Bahn als fahrende Leinwand ins Spiel. Das New York der 1970er Jahre war geprägt von städtischen Erneuerungen, Diskriminierung und Arbeitslosigkeit. Graffiti war in dieser Stadt für viele Jugendliche ein Ausweg aus dem Nichtstun. Sie konnten aktiv und gestalterisch in das Geschehen der Stadt eingreifen und ihre eigenen Fähigkeiten in der Öffentlichkeit zur Schau stellen.
Literatur
Strukturen
Graffiti ist stark hierarchisch strukturiert. Der Beste unter den Writern ist schlicht und ergreifend der ‘King’ – und diesem ‘Titel’ muss man beständig gerecht werden, ansonsten erhält ihn ein anderer. Anfänger werden ‘Toys’ genannt und müssen sich Respekt in der Szene erarbeiten. Üblich ist auch der Zusammenschluss zu Crews, in denen es um das gemeinsame Sprayen geht. Bei der Erstellung großer Werke (z. B. das Sprayen eines ganzen Zuges) arbeiten in der Regel die Writer einer Crew zusammen. Die Größe der Crews variiert stark (5-20 Personen) und ein Writer kann durchaus in mehreren Crews aktiv sein. Die Graffiti-Szene ist darüber hinaus in viele lokale (Großstadt-)Szenen differenziert, die in der Regel je eigene Styles entwickeln.
Fakten
Statistische Angaben über die Größe der Graffiti-Szene sind nicht möglich, weil die Szenegänger zu einem erheblichen Teil illegal agieren. Writer entstammen überwiegend der Mittel- und Oberschicht. Ihre schulische Ausbildung kann mit einem Überhang an (bestandenen oder anvisierten) Realschulabschlüssen bzw. Abitur als überdurchschnittlich bezeichnet werden. Im Hinblick auf das Alter liegt der Schwerpunkt der Szene bei den 14- bis 25-jährigen, jedenfalls dann, wenn man die (auch) illegal sprayenden Writer berücksichtigt. Auch ältere Writer gehen ihrer Tätigkeit in den Straßen nach, ziehen sich aber in der Regel aus den illegalen Aktivitäten sukzessive zurück und versuchen ihr Können zu vermarkten (z. B. durch Auftragsarbeiten).
Fast noch ausgeprägter als in anderen Szenen erweist sich die männliche Dominanz bei den Writern. Als Grund wird in der Szene gerne darauf verwiesen, dass die meisten Leute an illegalen Flächen anfangen zu sprayen, und – so der Tenor – alleine in der Nacht durch die Stadt zu streifen und in U-Bahnschächte zu klettern, das sei nichts für Frauen.
Relations
Die enge Verknüpfung mit Hip-Hop ist bereits angeklungen. Starke Überschneidungen gibt es zudem mit der Streetart Szene, die aus dem writing heraus entstanden ist. Die bedeutendsten Streetart-Techniken sind Schablonengraffiti, Sticker und Plakate. Die Schablonentechnik ist auch unter Writern sehr beliebt, da ihr Vorzug in der Wiederverwendbarkeit der Schablonen liegt. Die Formen reichen von kleinen Details bis hin zu überlebensgroßen Figuren. Der Hauptunterschied zwischen Streetart und Graffiti liegt in der Formensprache, da die Street-Artists nicht einen Namen, sondern meist ein grafisches Logo verbreiten. Ihre Ästhetik kommt aus dem Grafikdesign und nicht selten werden auch politische Botschaften transportiert.
Fokus
Beim writing geht es um die stilistische Gestaltung von Buchstaben. Die wichtigsten Buchstabenstile entwickelten sich bereits in den 1970er Jahren und wurden besonders durch die ‘Entdeckung’ der Spraydose und dem Konkurrenzkampf unter den Writern angekurbelt. Beim ‘Blockbuster Style’ werden einfache Blockbuchstaben verwendet. Im ’3D-Style’ wirken die Buchstaben durch einen Schatten dreidimensional. Der ‘Bubble Style’ arbeitet mit geschwungenen Linien und gibt den Buchstaben eine blasenähnliche Form. Und im ‘Wild Style’ werden die Buchstaben meist bis zur völligen Unkenntlichkeit entfremdet.
Zwei Typen der Flächengestaltung werden im Weiteren unterschieden: Beim ‘throw-up’ handelt es sich in der Regel um zwei bis drei Buchstaben im Bubble Style. Um die Stadt zu ‘bomben’, d. h. mit Graffiti zuzudecken, sind für einen Writer ‘throw-ups’ und ‘tags’ die erste Wahl. So genannte ‘Pieces’ und ‘masterpieces’ sind hingegen detail- und farbenreiche Werke, die neben Buchstaben häufig auch bildliche Elemente beinhalten (z. B. Figuren). Diese werden oft aus Comics, dem Fernsehen oder der Werbung entlehnt. Der dafür erforderliche hohe Zeitaufwand setzt eine ungestörte Arbeit voraus. Beliebte Plätze für pieces sind daher U-Bahn- und Zugstrecken sowie Schallschutzmauern, Autobahnauffahrten und -brücken oder leer stehende Fabriken.
Es sind v. a. zwei ineinandergreifende Themen für Writer von Bedeutung: Einerseits geht es darum, ein throw-up oder ein piece in gestalterischer und ästhetischer Hinsicht möglichst hochwertig anzufertigen. Andererseits spielt Individualität eine große Rolle, d. h. der Stil und seine Besonderheit ist wichtig und jeder ist darum bemüht, ‘sein eigenes Ding’ zu machen. Dahinter steht auch die Idee der ‘Werbung für sich selbst’, also den eigenen Stil zu finden und an möglichst vielen Stellen ‘Bilder’ zu sprayen, um damit aufzufallen.
Graffiti bedeutet darüber hinaus aber wesentlich mehr. Wie bei den Skatern, so kommt auch hier die Idee der ‘Rückeroberung’ des urbanen Raumes, der Aneignung anonymer öffentlicher Flächen zum Tragen. Ein Graffiti an eine Wand zu sprayen heißt nicht nur, ein Bild zurückzulassen, sondern auch, diese Fläche zeitweilig für sich und seine Zwecke in Anspruch zu nehmen, sie zu ‘verschönern’, und zwar gegen die Ansprüche der ‘Öffentlichkeit’ und gegen die Ansprüche anderer Writer. Graffiti ist in diesem Sinn auch ein symbolischer Kampf um Territorien.
Schließlich bringt gerade der Aneignungsaspekt ein drittes Themenfeld ins Spiel: Graffitis werden sehr oft auf Flächen gemalt, die dafür nicht vorgesehen sind. Die daraus resultierende Illegalität mündet in einen Dauerkonflikt mit der Polizei, welcher wiederum den Alltag des Writers und die Vorgehensweise beim Sprayen wesentlich mitbestimmt. Illegalität erweist sich dabei nicht als Hindernis, sondern als wesentliches Element des ‘Spiels’, das die Struktur der Szene und den Ablauf typischer Handlungen mitbestimmt.
Einstellung
Writer sehen ihr Wirken in erster Linie als einen kreativ-künstlerischen Akt der Selbstverwirklichung und Selbstpräsentation. Graffiti-Sprayen als ein Experimentieren mit dem eigenen Ausdruck(-swillen) hat zum Ziel, die eigenen gestalterischen und ästhetischen Fähigkeiten auszubauen bzw. ein entsprechendes Profil zu entwickeln. Sprayen ist jedoch keine selbstgenügsame Tätigkeit, sondern zielt auf die szene-interne Anerkennung (fame) ab. Anerkennung erlangt man nicht nur durch die Qualität eines pieces, sondern auch durch die Schwierigkeit und Gefährlichkeit, an einer bestimmten Stelle ein solches piece anzubringen. Illegalität wird so zu einer Motivations- und Inspirationsquelle. Illegales Sprayen ist geradezu eine notwendige, wenn auch meist zeitlich begrenzte Phase in der Karriere eines typischen Writers. Bei Graffiti handelt es sich dem Selbstverständnis nach in erster Linie um eine Kunstform, die ihren Reiz für den einzelnen Writer auch durch die Austragung im öffentlichen Raum, durch die provozierte Aufmerksamkeit und durch ihren (streckenweise) illegalen Status hat.
Lifestyle
Sie ziehen des Nachts um die Häuser, kriechen durch U-Bahnschächte und lernen Zugfahrpläne auswendig. Writer haben stets ein Auge auf einen guten Spot und verbringen Stunden mit der Entwicklung eines tags. Wie in vielen anderen Szenen auch, so nehmen auch bei Writern szenebezogene Aktivitäten sehr viel Zeit in Anspruch: Graffiti ist der Lebensmittelpunkt von Writern. Natürlich absolvieren die meisten eine Ausbildung, gehen zur Schule oder haben einen Beruf – aber der gesamte Freizeitbereich wird von Aktivitäten in und um Graffiti ausgefüllt. So rekrutiert sich auch der Freundeskreis zu großen Teilen aus der Szene.
Der ‘Lebensstil Graffiti’ zeigt sich in Form eines ‘Gravitationsfeldes’, um dessen Zentrum (Graffiti) alle anderen Themen kreisen. Dafür spricht z. B. auch, dass viele Writer ihre berufliche Zukunft in grafischen bzw. anverwandten Bereichen suchen und in vielen Fällen auch finden.
Symbole
Das Anbringen von Graffitis ist illegal und die Szenegänger möchten deshalb so ‘unsichtbar’ wie möglich bleiben. Die typische Hip-Hop Streetwear ist kein eindeutiger Hinweis, ob jemand malt oder nicht. Marker, Spraydose und Stift sind eindeutigere Erkennungsmerkmale. Writer untereinander erkennen sich nicht selten an der Art und Weise, wie jemand Züge beobachtet oder einfach nur durch die Stadt geht.
Das einzige Symbol, das einen Writer eindeutig kennzeichnet, ist sein tag, welches gleichzeitig auch als Signatur bei großen Werken (wie z. B. pieces) eingesetzt wird. Ein Writer verfügt meist über mehrere Namen, um seine legalen von seinen illegalen Aktivitäten zu trennen. Ein wichtiges Accessoire sind Skizzenbücher, in denen eigene Skizzen, Fotos sowie tags von bekannten Writern zu finden sind. Diese dienen zudem zum Austausch über eigene Stile und Werke, werden jedoch eher unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezeigt.
Trotz der hohen Strafen, der starken Überwachung und der regelmäßigen Reinigung hat der Zug bis heute hohen symbolischen Wert in der Szene und ist einer der prestigeträchtigsten Anbringungsorte von ‘Bildern’. Die Werke können sich von ganzen Wagons bis über ganze Züge erstrecken. Neben diesen ruhmträchtigen Varianten gibt es noch ‘panel pieces’, die unterhalb der Zugfenster oder zwischen den Türen der Wagons gemalt werden.
Rituale
Die Graffiti-Szene ist stark von Ritualen geprägt, die gleichzeitig auch die Hierarchie unter den Writern sichern. Beim ‘crossen’ werden die Werke von anderen Writern – vor denen man keinen Respekt hat – übersprüht. Das ist meist der Auftakt für eine ‘battle’, bei der – in Abhängigkeit vom Kampfgeist des ‘Gegners’ – auch alle eigenen Werke bis zur Unkenntlichkeit zerstört werden können.
Ein weiteres beliebtes Ritual besteht darin, Spraydosen zu stehlen. Das Abgeben von gestohlener Farbe an andere Writer kann bei Anfängern auch als Initiationsritus verstanden werden. Wichtigstes Ritual unter Writern ist aber das Sprayen selbst. Die Aktionen werden bis ins kleinste Detail vorausgeplant – vor allem dann, wenn es um das Einsteigen in einen U-Bahnschacht oder Betriebsbahnhof geht. Die Verfolgungsjagden durch die Polizei oder private Wachdienste bieten hierbei Abwechslung und werden nicht selten mit einem wildromantischen Charme verklärt.
Events
Die bekanntesten Events sind Hip-Hop-Jams, bei denen eine Mischung aus Rap, Graffiti, Breakdance und DJing vorzufinden ist. Die jeweiligen Szenegänger treffen sich dort, um in lockerer Atmosphäre ihr Können zu demonstrieren und sich mit anderen zu messen. Durch den Einzug von Graffiti in den Kunstmarkt sind auch Galerien und Ausstellungseröffnungen wichtige Szene-Events. Dort treffen sich nicht nur Writer, sondern es ist auch kunstinteressiertes Publikum vor Ort. Oft werden bei Ausstellungseröffnungen life Spray-Acts geboten.
Treffpunkte
Im New York der 1970er Jahre trafen sich die Writer in U-Bahnstationen und tauschten Fotos aus, zeigten sich Skizzen und planten Aktionen – ebenso verhielt es sich in europäischen Metropolen. Die verstärkte Überwachung ebensolcher Treffpunkte zerstreute die Writer mehr und mehr über die Stadt und die Szene trifft sich nicht selten einfach beim Ausgehen oder bei den oben genannten Events. Die Freizeitinteressen von Writern überschneiden sich meist stark und in beliebten Bars oder Clubs trifft man sich dann, um später noch ‘um die Häuser zu ziehen’. Die Szene zeichnet sich aber vor allem durch enge Freundschaften unter den Writern aus, weswegen konkrete Treffpunkte nicht zwingend erforderlich sind.
Medien
Durch Filme wie ‘Wild Style’ und ‘Style Wars’ wurde der weltweite Graffitiboom stark befördert. Hinzu kommen Magazine wie z. B. ‘Xplict Grafx’ (Frankreich), ‘Backjumps’ (Deutschland), ‘Bomber’ (Niederlande) oder ‘Go-On’ (Österreich), die ein wichtiges Medium zum Austausch über Styles und Techniken darstellen. Mittlerweile hat sich auch das Internet als Medium zum Austausch und zur globalen Vernetzung der Writer etabliert. Die persönliche Hinterlassenschaft in der Stadt ist aber immer noch von primärer Bedeutung und die Vernetzung der Writer untereinander findet dementsprechend hauptsächlich vor Ort statt.