Szeneprofil: Gothic
Intro
Die Bezeichnung ‘Gothic’ klingt mittelalterlich, dunkel und mystisch, jedoch zugleich irgendwie ‘modern’. Diese bereits in der Bezeichnung anklingenden Widersprüchlichkeiten sind kennzeichnend für die Gothic-Szene: Einerseits hängen die Szenegänger einer längst vergangenen Zeit romantisierend nach und verleihen diesem Aspekt in ihrem Lebens- und Kleidungsstil deutlich Ausdruck. Andererseits pflegen sie durch ihren Fokus auf Ästhetik und Individualität eine ausgeprägt spätmoderne Existenzform.
Die zum Teil als ‘krude’ empfundenen Aufmachungen – denn das ist es, was zunächst ‘ins Auge fällt’ – einzuordnen, ohne sie einerseits zu bagatellisieren (‘machen die nur, um aufzufallen’) und andererseits zu skandalisieren (typische Vorurteile: Todessehnsucht, Selbstmordgefährdung, Rechtsradikalismus, Satanismus, Opferritualismus etc.), wird häufig außer Acht gelassen. Die Gothic-Szene gilt – erstaunlicherweise immer noch – als geheimnisumwittert und missverstanden.
History
Die Entstehungszeit der Gothic-Szene kann auf Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre datiert werden. Ursprung war die Punk-Bewegung. Der Begriff ‘Gothic’ wurde erstmalig von Musikjournalisten in den 1970er Jahren für neu auftauchende, ruhig-melancholische
Elemente in der Musik verwendet und noch nicht für die sich langsam herausbildende Szene (zu den Ursprüngen des Begriffes ‘Gothic’ siehe www.scathe.demon.co.uk/name.htm). Aus dem Punk gingen zwei Bewegungen hervor, welche die Gothic-Szene maßgeblich prägen sollten: ‘New Waver’ und ‘New Romantics’. Die Grenzziehung zum Punk erfolgte vor allem über das äußere Erscheinungsbild, welches im Gegensatz zum Punk vornehm, gepflegt, edel und aristokratisch anmutete und über die unterschiedlichen Denkweisen, welche im Falle der Gothics eher auf Introvertiertheit und Retrospektivität angelegt waren. Als Entstehungsraum gilt England – mit dem Londoner Club ‘Batcave’ als zentraler Treffpunkt der sich neu formierenden Szene. Die Farbe Schwarz, auch schon im Punk-Stil prägend, wurde als Abbild des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustandes begriffen. Entsprechend des darauf basierenden äußeren Erscheinungsbildes ergibt sich die, neben dem Begriff ‘Gothic’, verwendete Bezeichnung ‘Schwarze Szene’.
Literatur
Strukturen
Strukturen entstehen
durch soziale Abgrenzungsprozesse. Grundlage hierfür ist szenespezifisches Wissen, welches sich in entsprechenden Interaktions- und Gemeinschaftsmustern niederschlägt. Auf dieser allgemeinen Ebenen grenzt sich die Gothic-Szene von der ‘Restgesellschaft’ ab und etabliert ihre szenespezifischen Strukturen.
Inner-szenisch erfolgt eine Strukturbildung, indem der gothic-spezifische Inhalt weiter differenziert wird. Dies geschieht zum einen horizontal durch eine Aufgliederung in Subszenen. Kriterien der Differenzierung sind in der Regel musikstilistische Präferenzen (etwa: Gothic-Rock, elektronische Genres, mittelalterliche Musik etc.) sowie – damit einhergehend – spezifische Stilpräferenzen (‘Outfit’) und/oder thematische Bezüge und Interessen (Mittealter, Romantic, Fetisch etc.). Insgesamt versammeln sich unter der Bezeichnung ‘Gothic’ vielfältige Stilrichtungen und subszenenspezifische Differenzierungen, deren Typologisierung den hier zur Verfügung stehenden Rahmen bei weitem sprengen würde.
Interessanter (weil für die Dynamik der Szene entscheidender) ist die Frage danach, wer ein ‘echter Gothic’ ist. Inner-szenische Strukturierung vollzieht sich nämlich zum anderen vertikal entlang der Dimension authentisch/inauthentisch. Inhaltlich anzugeben, was als authentisch gilt, erweist sich allerdings als problematisch, so dass in den meisten Fällen Beispiele angeführt werden (etwa: ein authentischer Szenegänger gibt sich sichtbar mehr Mühe mit dem Styling, es wirkt nicht verkleidet oder angemalt, ist weniger gesellschaftskonform. Oder: ein inauthentischer Szenegänger konsumiert bloß passiv, adaptiert das Vorgegebene, ‘protzt’ mit auffälligem Stilgebaren usw.).
Letztlich ist die Figur des ‘(in-)authentischen Grufties’ als ein Ideal- bzw. Negativbild zu verstehen, auf das unangemessene wie angemessene Handlungsweisen und Haltungen projiziert werden können. Als unangemessen gilt eine äußerliche Präsentation, wenn sie keine innerlichen Entsprechungen besitzt (bezeichnet wird das dann als ‘aufgesetzt’, ‘oberflächlich’, ‘profilierungssüchtig’ etc.). Als angemessen dagegen wird eine konsistente Selbstpräsentation empfunden, die sich dadurch auszeichnet, dass Äußeres durch Inneres motiviert erscheint.
Zusammengenommen bezieht
sich die Szene dabei vor allem auf folgende Dimensionen:
- die Individualität versus Nachahmung von Geschmack bzw. Stil- und Handlungspraktiken,
- der Grad szenespezifischer Kompetenzen und Fähigkeiten,
- der Grad der Involviertheit in die Szene, gemessen an prestigeträchtigen Positionen, Umfang des Kontaktnetzwerks und der Korrespondenz von Szene- und Alltagsleben.
Authentizitätszuschreibungen sind letztlich immer Werturteile, die sich auf szenespezifische Standards stützen. Sie sind damit ein entscheidender Motor und Garant der Aufrechterhaltung der Szene als integriertem normativem Kosmos.
Fakten
Zu den sozialstatistischen Fakten lässt sich Folgendes sagen: Die Größe der Szene ist schwierig abzuschätzen. Die durchschnittlichen Besucherzahlen des Wave-Gotik-Treffens, welches jährlich zu Pfingsten in Leipzig stattfindet, liegen bei etwa 20.000 Personen. Aber nicht jeder Szenegänger fährt zu diesem Treffen. Und auch nicht jeder, der sich szenetypische Musik und Zeitschriften kauft, würde sich als szenezugehörig einstufen. Aktuell kann die Gothic-Szene wieder einen starken Zulauf verzeichnen und Schätzungen gehen von 50.000 bis 100.000 Szenegängern aus. Der starke Zulauf wird von ‘alteingesessenen’ Szenegängern oftmals skeptisch beäugt. So genannte ‘Pseudos’ oder ‘Fakes’ (d. h. Leute, die Styling und Modetrends den Vorzug vor den eigentlichen Inhalten geben) lehnt man kategorisch ab, und auch die seit Mitte der 1990er Jahre voranschreitende Kommerzialisierung der Szene wird kritisch hinterfragt.
Zu hinterfragen sind auch die (meist medial verbreiteten) Klischees über die Gothic-Szene. Die meisten Szenegänger gehen weder satanistischen Neigungen nach, noch schänden sie nachts Friedhöfe oder sind dauerhaft depressiv und selbstmordgefährdet. Die intensive Beschäftigung mit dem Tod verweist hier vielmehr auf eine Bewältigungsstrategie bzw. auf eine Art und Weise des Umgangs mit dem Thema Tod, die von gesellschaftlichen Konventionen abweicht. Auch rechtsradikalen Inhalten tritt man in der Szene entschieden entgegen – z. B. mit der Initiative ‘Grufties gegen Rechts’ (siehe www.geister-bremen.de). Gewaltfreiheit, Toleranz und Friedfertigkeit sind zentrale Werte innerhalb der Szene.
Hinsichtlich der Altersstruktur wird deutlich, dass die Gothic-Szene schwerlich als reine Jugendkultur bezeichnet werden kann. Zwar beginnt die Altersspanne bei 14 Jahren, es lässt sich jedoch keine feste obere Altersgrenze ausmachen. Viele Szenegänger gehen bereits einem geregelten Arbeitsleben nach und haben eigene Familien. So ist es auch keine Seltenheit, auf Festivals ‘Gothic-Familien’ anzutreffen.
Das zahlenmäßige Verhältnis der Geschlechter innerhalb der Szene ist, im Vergleich zu anderen Szenen, sehr ausgewogen.
Relations
Grundsätzlich: Da die
Gothic-Szene eine sehr offene und tolerante Szene ist, existieren vielfach Überschneidungen in Form von geduldeten Koexistenzen. Unliebsame Vereinnahmungen
(etwa durch rechte Gruppierungen) werden als ‘Unterwanderung’ empfunden, jedoch im Großen und Ganzen nicht aktiv bekämpft. Ähnlich gestaltet
sich dies mit Unterstellungen durch die ‘Normalgesellschaft’, etwa die In-Eins-Setzung der Gothic-Szene mit satanistischen Orden (vor allem
in der Boulevardpresse), worauf die Szene in der Regel eher verhalten, passiv bis ironisch reagiert.
Überschneidungen als geduldete Koexistenzen bestehen mit folgenden Szenen:
- Die Punk-Szene gilt als die Wurzel der Gothic-Szene und teilt mit dieser ihre gesellschaftskritische
Haltung, welche sich in einem provokanten Stil manifestiert. Während Punks jedoch offen provozieren und teilweise auch existentiell ‘am Rande
der Gesellschaft’ leben, geschieht dies in der Gothic-Szene weitaus subtiler und vermittelter. Nicht so sehr die politische Provokation
als vielmehr der lebensstilistische Eigensinn stehen hier im Vordergrund. - Berührungspunkte zur (Black- und Death-)Metal-Szene ergeben sich vor allem hinsichtlich (musik-)stilistischer
Eigenarten. Hier wie dort spielt gitarrenlastiger, düsterer Rock eine Rolle, der sich mit spezifischen Symbolen und Insigien umgibt (Todes-
und Religionssymbole, blasphemische Rituale). - Fetisch-Szene: Adaption typischer Stilvarianten (Fetischkleidung) und Inszenierungsformen (etwa: ‘jemanden
an der Kette führen’). - Überschneidungen mit der Techno-Szene ergeben sich vornehmlich durch die Orientierung an elektronischen
Einflüssen, was sich z. B. im Cyber-Gothic Stil bemerkbar macht.
Fokus
Zentrales Thema der Szene ist die stilistische Einheit aus Musik, Körperinszenierung (‘Outfit’) und ‘Lebensart’, welche zentrale Überzeugungen, Einstellungen und Werte der Szene in ästhetisierter Weise zum Ausdruck bringt. ‘Ästhetisiert’ verweist dabei auf den Umstand, dass es nicht bloß um die Repräsentation ‘dahinter liegender’ Ideen geht (‘Schwarz steht für Trauer’), sondern die Form als Gegenstand der Wahrnehmung (Ästhetik) bzw. als spezifische Art und Weise (Stil) als solche eine zentrale Rolle spielt (‘Schwarz wird getragen, weil es als schön empfunden wird’).
Ästhetischer Ausdruck und Stil fungieren damit zunächst und einerseits als Selbstzweck, d.h. als Arten und Weisen, etwas so und nicht anders zu tun, die ihrer selbst willen gewählt werden. Anderseits scheinen auffällige Stile geschaffen, um auf etwas zu ‘verweisen’ (‘Lebensart’, Zugehörigkeit, Einstellung) bzw. um etwas zu bewirken (Auffälligkeit, Andersartigkeit, Provokation), sie erscheinen als absichtlicher Ausdruck für einen (imaginierten)Beobachter und verfolgen damit vermutlich einen kommunikativen Zweck.
Im Fokus der ‘schwarzen Szene’ liegt der ambivalente Umgang mit diesem Verhältnis, welches im Spannungsfeld von ‘etwas zum Ausdruck bringen’ und ‘etwas kommt zum Ausdruck’ anzusiedeln ist. Stil (‘Outfit’) wird auf der einen Seite zum Ausdruck gebracht (ich gehöre zu dieser Szene, ich habe diese oder jene Einstellung etc.), auf der anderen Seite jedoch zugleich als gewachsene Verkörperung einer gelebten Einstellung (ich denke/lebe so und sehe deshalb so aus), also als etwas, was zum Ausdruck kommt, begriffen. Um die ‘Aufgesetztheit’ versus die ‘Gewachsenheit’ eines Stils ranken sich die für Szenen typischen Authentizitätsdiskurse.
So fungiert etwa die Farbe Schwarz in der Szene als ‘Superzeichen’ für einen ‘schwarzen Kosmos’, welchem eine gewachsene (und nicht aus Provokationszwecken hergestellte) ‘Lebensart’ an die Seite gestellt wird: Die Szene bezeichnet sich selbst als ‘schwarz’, hängt (augenzwinkernd) einem ‘schwarz-weißen’ Weltbild an (die ‘schwarze Welt’ versus die ‘bunte Welt’), hinter welchem sich zentrale, werthaltige Dichotomien verbergen (etwa: Tiefsinnigkeit versus Oberflächlichkeit, Empfänglichkeit für das ‘Dunkle’ versus die Augen davor verschließen etc.) und verweist mit Hilfe der durchgehenden Verwendung der Farbe ‘Schwarz’ auf eine Alltagsentrücktheit als inner-szenischen ‘Normalzustand’.
Einstellung
Einstellungen als bewertende Haltungen, die die Grundlage für die Bestimmung ähnlicher Handlungsentwürfe liefern, lassen sich zum einen eher formal und abstrakt (verdichtet)und zum anderen über die Aufzählung inhaltlicher und konkreter Kategorien bestimmen. Letzteres führt zu Listenbildungen zentraler Themenbereiche und Werthaltungen. Dies könnte für die Szene der Gothics etwa wie folgt aussehen:
- Beschäftigung mit alltagstranszendenten Themenbereichen. Hierzu gehören so unterschiedliche Interessenskomplexe wie fremde/vergangene Kulturen und Denktraditionen (Mittelalter, Romantik), übersinnliche Welterklärungen und Kosmologien (Religionen, Esoterik, Okkultismus, Magie, Mystik, Mythologie(n) etc.), das schlicht ‘Unvorstellbare’ (Tod, Gott, Satan, ‘was die Welt im Innersten zusammenhält’) sowie den Mensch und seine Existenz betreffende Phänomene, Vorstellungen und Theorien (Körperlichkeit/Sexualität, Gefühlsleben und Sinnlichkeit, Identität, Psychologie, Psychoanalyse, Astrologie etc.).
- Solche allgemeinen Interessenskomplexe manifestieren sich zum einen in der Ausbildung typischer Präferenzen, etwa für altertümliche Gebäude (Burgen, Ruinen), bestimmte Formen von Kunst, Literatur und Wissenschaft (Lyrik, Gothic-Novels, Parapsychologie) oder besondere Atmosphären sowie typischer Aktivitäten und Handlungspraktiken, etwa vom alltäglichen Handlungsdruck entlastete Tätigkeiten (sinnieren, spazieren gehen, Gespräche führen etc.) oder sinnlich-körperbezogene bzw. gefühlsbetonte Aktivitäten (spazieren im Wald/in der Natur, Musik hören, tanzen, tagträumen, ‘Traurigkeit spüren’).
- Darüber hinaus bilden solche allgemeinen Interessenskomplexe den Hintergrund für spezifischere kollektive Werthaltungen und Gefühlslagen. Traurigkeit, Melancholie und Demut entspringen der ‘Erhabenheit’ und Existenzialität der bevorzugten Themen, Elitehaltung und Arroganz der ‘Normalgesellschaft’ gegenüber fußen in dem Wissen, aufgrund der Beschäftigung mit solchen Themen, dieser überlegen zu sein.
- Die Überhöhung irdischen Lebens als Normalzustand scheint der Boden für weitere, szenetypische Eigenschaften: Pazifismus, Offenheit und Toleranz, Sinn für Humor/(Selbst-)Ironie, eine (gesellschafts-)kritische Haltung, welche eher zur Abschottung als zu politischem Engagement führt, Experimentierfreudigkeit und Expressivität.
Versucht man diese einzelnen Momente zu einer abstrakten Schlüsselkategorie zu verdichten, welche alle genannten Momente in sich vereint (Synthese), so gelangt man zur ‘Kategorie des Inhalts’: Ihre spezifischen Haltungen und Weltdeutungsmuster sehen die Gothics in einem eigenständigen ‘schwarzen Kosmos’, der sie von der (begrenzten) ‘Normalgesellschaft’ abhebt. Diese kohärente ‘Welt der Gothics’ stützt sich auf den immer wieder aufgerufenen und nebulös umschriebenen Begriff des Inhalts als Eigenwert. Inhalt wird zu einem Strukturmerkmal, das die schwarze Szene eint und sie durch Niveau und Authentizität vom ‘Rest der Welt’ unterscheidet. Was den Inhalt ausmacht,wird meist nur vage umschrieben. Verwiesen wird häufig auf szenespezifische Gestimmtheiten, die der Artikulation entzogen sind, da sie auf einer nicht artikulierbaren Gefühlsebene anzusiedeln sind. Ein solcher Inhalt wird nur für Personen spürbar, die wissen, was damit gemeint ist – zugänglich eben nur für Eingeweihte. In diesem elitären Denken spiegelt sich der Mythos der Seelenverwandtschaft wider, welcher häufig bemüht wird, wenn eine quasi-natürliche Affinität der Anhänger zu ihrer Szene beschworen wird. Dieses holistische Gefühl rangiert auf einer Ebene, die jeder Rationalität und Analytik entzogen ist. Ein solcher Kosmos entfaltet lebensweltartige Züge und spendet damit Geborgenheit, Aufgehobenheit und Zugehörigkeit – Dinge, die in der Gesellschaft schmerzlich vermisst werden.
Lifestyle
In der Gothic-Szene wird vor allem individuelle Kreativität groß geschrieben – insbesondere wenn es um das eigene Auftreten geht. Aber eine zunehmende Kommerzialisierung bringt auch immer einen Verlust individueller Kreativität mit sich. Die großen Internetkaufhäuser versorgen die Szenegänger mit allem was das ‘Schwarze Herz’ begehrt. Von der Bekleidung bis zur Zimmereinrichtung ist alles im schwarzen Stil zu finden. Was man sich in den Anfangszeiten der Szene selber basteln oder schneidern musste, ist heute käuflich zu erwerben. Dennoch versucht man trotz solchen Kommerzialisierungs- und Standardisierungsversuchen von Seiten des Marktes, sich die eigene Kreativität zu erhalten. Dass die Gothic-Szene ein enormes Kreativitätspotenzial beherbergt, zeigt sich auch an der Beschäftigung vieler Szenegänger mit Lyrik, Malerei oder Fotografie.
Innerhalb der Schwarzen Szene finden sich vielfältige Stile, wobei das äußere Erscheinungsbild meist eng mit der jeweiligen Musikrichtung(en) verknüpft ist, welcher man zugetan ist. So findet man auf den großen Szenetreffen unter anderem folgende Stile:
- Der klassiche Gothic-Stil ist nur noch vereinzelt anzutreffen. Hiermit ist der Stil aus den Anfangsjahren der Szene gemeint: die weißgeschminkten Gesichter im Kontrast zu schwarzem Mund und blutunterlaufenen Augen, damals auch als ‘sich totschminken’ bezeichnet. Die Kleidung ist eher weit und hochgeschlossen und weniger auf Erotik fokussiert.
- Der Romantik-Stil: Hier fallen vor allem die verschiedene Korsettarten und der Reifrock auf. Stilprägend sind hier also vor allem Stilelemente verschiedener Epochen. Anhänger dieses Stils bezeichnen sich selbst auch als ‘Schwarzromantiker’. Als Substil ist der ‘historische Stil’ zu nennen, bei dem großer Wert darauf gelegt wird, die Kleidung möglichst originalgetreu entsprechend der jeweiligen favorisierten Epoche (z. B. Mittelalter, Barock oder Rokoko) zu tragen.
- Industrial-Stil: Wie die Musik setzt sich dieser Stil mit den Folgeerscheinungen der Industriegesellschaft (z. B. der zunehmenden Künstlichkeit und Technisierung vieler Lebensbereiche) auseinander. Gasmasken, Schweißerbrillen, Mundschutz, Schutz- und Tarnanzüge sind hier stilprägend und kreieren eine Ästhetik des Bedrohlichen.
- Der Cyber-Gothic-Stil: In diesem Stil manifestieren sich die Einflüsse der Technoszene. Stilprägend sind hier Glitter und Galmour (‘London Style’), grelle Neonfarben in Kleidung und Haaren, bunte Haarteile, Kunstpelz und Federboas. Dieser Stil ist futuristisch und ‘spacig’.
- Der SM-Stil wirkt durch Materialien wie Lack, Latex und Leder sehr martialisch aber zugleich wird der Körper enorm erotisiert. Klar zum Tragen kommen hier die Überschneidungen mit der SM-Szene. Beliebt als Accessoires sind schwere Ketten, breite Halsbänder mit ‘spikes’ oder Handschellen.
- Der ‘Gothic-Lolita-Stil’ welcher, zusammen mit Gothic-Bands im ‘Visual Kei’-Stil aus Japan stammt, ist im Moment bei den Frauen sehr angesagt ist. Man kokettiert hier mit dem ‘Kindchenschema’. Stilprägend sind kurze Petticoats, Tüll, Spitze, die Kleidung erinnert an Ballerinas, Kellnerinnen, Schuluniformen und Dirndl.
Generell auffällig ist zudem das oftmals sehr kunstvolle Make-up der Frauen, aber auch bei den Männern der Szene ist das Tragen von Make-up oder schwarzem Nagellack nichts Ungewöhnliches. Man liebt es, sich zurechtzumachen, denn bei den Festivals geht es immer auch um ‘sehen und gesehen werden’. Die Gothic-Szene ist jedoch eine sehr zurückgezogene Szene, die sich meist regional in kleinem Kreis organisiert, wobei sie sich in starkem Maß das Internet zunutze macht. Es gibt zahlreiche Online-Portale worüber die Szenegänger in Kontakt treten und sich austauschen.
Die Gothic-Szene ist eher unpolitisch und nicht auf Konfrontation mit der ‘Normalgesellschaft’ bedacht. Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft löst eine Suche nach alternativen Sinnangeboten aus. Darüber ist die Faszination vieler Szenegänger mit vergangenen Epochen, vor allem dem Mittelalter und der Romantik, mit Mystik und heidnischen Religionen zu erklären, was sich wiederum anhand der szenetypischen Symbolik zeigt.
Symbole
Zunächst besitzt natürlich die Farbe Schwarz eine ganz eigene Symbolik. Sie steht meist für außeralltägliche Gegebenheiten. Auf der einen Seite trägt sie die Bedeutung für Tod und Trauer, auf der anderen Seite für Eleganz und Erhabenheit. Innerhalb der Gothic-Szene wird diese Farbe veralltäglicht und findet sich in allen Kontexten wieder, wobei man natürlich um die oben genannten Bedeutungen weiß.
Bei dem in der Gothic-Szene getragenen Schmuck fallen vor allem folgende Symboliken auf: Todessymbolik
– die in Form eines Memento Mori die (eigene) Vergänglichkeit ins Gedächtnis rufen soll; Tiersymbolik – hier vor allem Tiere wie Spinnen, Skorpione oder Schlangen, die bei anderen ein Gefühl des Unbehagens auslösen; Kreuzsymbolik – wobei das umgedrehte Kreuz nicht für Satan, sondern für die Ablehnung der Kirche als Institution steht, Pentagramme und Symboliken aus mythologischen Kontexten vergangener Kulturen (u.a. Ägypten, Germanen, Kelten).
Rituale
Rituale können als Handlungen
oder Handlungskomplexe verstanden werden, die über ihre rein instrumentelle Funktion hinausgehen und auf diese Weise symbolische Verweiskraft erlangen.
Unterscheiden lassen sich zwei funktional eng miteinander verschränkte Ritualbereiche. Rituale der Herstellung und Pflege von Gemeinschaft vollziehen sich im inneren der Szene und sind nicht primär darauf angelegt, sich von Außenstehenden abzugrenzen. Vielmehr steht das Zelebrieren des Eigenen im Vordergrund. Mehr oder weniger ritualisierte Handlungskomplexe lassen sich auf unterschiedlichen sozialen Aggregationsebenen der Szene ausmachen:
- überregionale Festivals,
- regional: Locations und periodische Clubveranstaltungen,
- lokal: wiederkehrende und ähnlich gestaltete Treffen informeller Gruppen im Alltag (hierzu könnten weniger auffällige Rituale wie die Herstellung bestimmter Atmosphären und die Pflege spezieller Gewohnheiten gezählt werden).
Insgesamt handelt es sich hierbei um ‘Rituale des Feierns’, d. h. um Handlungskomplexe, welche die Außeralltäglichkeit eines Ereignisses zu markieren vermögen. Dies geschieht in der Gothic-Szene vornehmlich zunächst über die Schaffung einer besonderen ‘schwarzen Atmosphäre’ (auch: Flair, Ambiente, Stimmigkeit, Gefühl). Demgegenüber sind Rituale der Abgrenzung primär oder unter anderem funktional darauf bezogen, sich von einer als ‘normal’ empfundenen ‘Restgesellschaft’ abzusetzen. Dabei handelt es sich etwa um:
- zur Schaustellung eines ‘abschreckenden’ Stils,
- Pflege einer kryptischen Symbolpolitik,
- Pflege einer exklusiven und aufwändigen Selbstdarstellung,
- provokatives Spielen und Kokettieren mit Tabuthemen (Tod, Pornografie, sexuelle Perversion) und Tabusymbolen (Hakenkreuz, satanistische Symboliken),
- Beschäftigung mit kognitiv anstrengenden und/oder ‘sperrigen’ Kulturgegenständen (Hochkultur, Wissenschaft),
- Verkörperung gesellschaftlich ‘verdrängter’ Themen (Tod, Verderbnis, Schattenseiten unserer Gesellschaft) und der damit zusammenhängenden Stimmungen (Traurigkeit, Melancholie, Demut) am eigenen Leib.
Events
Die wichtigsten Events und zugleich jährliche Höhepunkte im Szeneleben sind die großen Festivals. Vorderst ist das ‘Wave-Gotik-Treffen’ zu nennen, zu dem Anhänger der Gothic-Szene aus der ganzen Welt über Pfingsten nach Leipzig kommen. Des Weiteren kommen dem ‘Mer’a Luna’ in Hildesheim, dem ‘Woodstage’ in Dresden und dem ‘Amphi Festival’ in Köln große Bedeutung zu. Zudem sind noch die verschiedensten kleineren, regionalen Treffen zu nennen.
Treffpunkte
Zentrale Szenetreffpunkte sind zunächst szenetypische Clubs, Parties und Diskotheken. Da es nur für die wenigsten Clubs rentabel wäre, reine Szeneclubs zu sein, sind diese nur selten anzutreffen (so etwa in Leipzig das ‘Darkflower’ oder Karlsruhe die ‘Kulturruine’). Des Weiteren gibt es in jeder größeren Stadt ausgewählte Clubs, die einmal pro Woche einen ‘Schwarzen Abend’ oder Parties unter ähnlichem Motto veranstalten. Vereinzelt finden sich auch Cafés oder Absintherien (Absinth ist wie Rotwein ein sehr beliebtes Szene-Getränk), in welchen die Szenegänger verkehren. Ein weiterer beliebter Treffpunkt sind die zahlreichen Konzerte der Szenebands, Lesungen oder (Foto-)Ausstellungen.
Viele Szenegänger halten sich zudem gerne an mystisch-romantischen, einsamen Orten wie Burgruinen oder Friedhöfen auf, um die dortige Stille zu genießen, sich an frühere Zeiten zurückzuerinnern und sich die eigene Vergänglichkeit zu vergegenwärtigen. Auf den Friedhöfen werden zudem die Grabskulpturen und Engelsstatuen bewundert und oftmals auch fotografiert.
Medien
Auffälligste und wohl auch integrativste Foren der Szene sind die großen, professionellen Szenemagazine wie ‘Orkus’, ‘Zillo’, ‘Sonic Seducer’, ‘gothic!’, und ‘gothic magazin’. Für die lokale und regionale Organisation der Szene spielen darüber hinaus Fanzines eine bedeutsame Rolle. Den größten Raum nehmen dort Berichte über verschiedene Bands ein, gefolgt von Hinweisen auf Festivals, Diskussionen zu Klischeevorstellungen über die Szene in der Öffentlichkeit, allgemeinen politischen und kulturellen Themen und Kontaktanzeigen. In den Redaktionen arbeiten zum großen Teil Szenegänger.
Ein anderes Printmedium sind Flyer, die sowohl in Discotheken, als auch bei Konzerten oder in Szene-Shops ausliegen. Eine Besonderheit der Gothic-Szene ist die relativ große Bedeutung von Büchern. Typischerweise werden in der Szene Horror-Romane,Fantasy-Geschichten und zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Esoterik und Magie gelesen. Beliebt sind schließlich auch Comics aus den Genres Fantasy, Horror und Science-Fiction.
Die Nutzung des Internets wird in der Szene unterschiedlich aufgenommen: Während manche darin verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten sehen, befürchten andere einen Abschied von der Naturverbundenheit der Szene. Nichtsdestotrotz hat das Internet für die Selbstorganisation der Szene eine zunehmend größere Bedeutung.